Erst im Experiment der Rezeption, so ist mit J.M.R. Lenz (1751-92) festzustellen, kann Kunst zu einer Erfahrung werden, worin sich »allerlei Art Leiden und Mitleiden« in Denken und somit – wie er in Auseinandersetzung mit Kant erkennt – in Freiheit verwandelt. Dies bedeutet zugleich, dass den Rezipierenden ästhetische Erfahrung nicht automatisch zuteilwird, sondern sie den Mut aufbringen müssen, das Experiment zu wagen und fremde Gefühle, als wären es ihre eigenen, zuzulassen und zu reflektieren.
Dass Freiheit nur im Modus des Experiments zugleich erfahren und bewiesen werden kann, wird für Lenz in den Jahren 1774/75 bis 1777 zum Signum einer Poetik des Leidens, die er in diesen Jahren zwischen Straßburg, Weimar und seinen Wanderungen durch die Schweiz entwirft und erprobt. Dabei scheint es für seinen situativen Stil symptomatisch, dass er seine experimentalpoetischen Überlegungen nicht systematisch fasst, sondern vielmehr in verschiedenen Anläufen nach jeweils neuen Beschreibungsformen für die versuchsfreudige Rolle sucht, die dem Dichter/Leser im Prozess der Produktion/Rezeption von Literatur zukommen soll.
Wilms Experimentalpoetik verfolgt nicht das Ziel, aus den diversen experimentalidealistisch geprägten Ansätzen Lenzens, die sich über zahlreiche poetische und theoretische Texte sowie in Briefen verstreut finden, ein geschlossenes System zu formen. Vielmehr begibt sich die Verfasserin auf die Suche nach den Spuren einer für das ausgehende 18. Jahrhundert durchaus charakteristischen Gedankenfigur, die Lenz sowohl in seiner anthropologischen als auch poetischen Ausrichtung maßgeblich prägt. Seine experimentalpoetischen Überlegungen finden dabei, so wird hier gezeigt, ihre spezifische Zuspitzung und schließlich Hinterfragung in der Engführung von ästhetischer Erfahrung und experimentellem Leiden.