Thomas Mann hat einmal vom »Geist der Erzählung« gesprochen, der darüber entscheidet, was im kulturellen Gedächtnis einer Zivilisation aufbewahrt bleibt. Dieses Weiterleben nennt man mit einem anderen Wort Tradition oder auch Überlieferung. Wie steht es damit im Bereich der Literatur? Werkausgaben der sogenannten »Klassiker« sind aus der Mode gekommen. Wer sich auf die Suche danach macht, für den tut sich im Internet zwar ein ungeheurer Reichtum auf, nur ist zu fürchten, dass die Zahl der Menschen, die sich diesen Reichtum erschließen wollen und können, immer kleiner wird. »Alles gespeichert, d. h. alles vergessen«, schrieb Hans Magnus Enzensberger bereits vor 20 Jahren. Zunehmend gleicht der digitale Reichtum einer Sesam-Schatzhöhle, deren Lösungswort immer weniger Menschen kennen.
Die in diesem Buch versammelten Aufsätze – sie erschienen in den zurückliegenden knapp zwanzig Jahren in der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte – sind ein schwacher Versuch, sich dieser wahrscheinlich unaufhaltsamen Entwicklung zu widersetzen. Sie mögen daran erinnern, wieviel Großes und Unwiederholbares im sich ausbreitenden Vergessen zunehmend in Verlust gerät.
Hanjo Kesting
Hanjo Kesting, geb. 1943, von 1973–2006 Leiter der Hauptredaktion Kulturelles Wort beim Norddeutschen Rundfunk. – Zuletzt: »Bis der reitende Bote des Königs erscheint. Über Oper und Literatur«, Göttingen 2017. – »Erfahren, woher wir kommen. Große Erzählungen der Weltliteratur«, 3 Bde., Göttingen 2019. Zuletzt: »Abschiedsmusik. Nachrufe aus 20 Jahren (2000–2020)«, Hannover 2022. – »Schnee von gestern. Literaturkritische Streifzüge«, Hannover 2022. – »Thomas Mann. Glanz und Qual«, Göttingen 2023.