Der in Peine geborene Dichter, Übersetzer und Theaterintendant Friedrich von Bodenstedt (1819–1892) erzielt mit dem Gedichtband Die Lieder des Mirza Schaffy (1851) einen ungeheuren Erfolg. Das Buch erreicht in nur drei Jahrzehnten 100 Auflagen und erscheint unaufhörlich weiter. Die Faszination wurde seit der Reiseschrift Tausend und ein Tag im Orient (1850) befeuert, die auch Gedichte von Bodenstedts Sprachlehrer Mirza Schaffy in Tiflis enthielt. Wie bei dem angeblichen Sänger Ossian im 18. Jahrhundert begaben sich viele Lesende in den Kaukasus, um nach Mirza Schaffy zu suchen. Erst als Bodenstedt den angeblichen Verfasser zurücknahm und alle Gedichte als seine eigenen reklamierte, ließ das Interesse an der Liedersammlung allmählich nach.
Das vorliegende Buch bringt erstmals Licht in das Rätsel dieser ominösen Autorschaft. Mirza Schaffy (1796–1852) ist im Gegensatz zu Ossian ein realer Schriftsteller, der in der persisch-aserbaidschanischen Literaturwissenschaft als Nationaldichter verehrt wird. Die Studie zeigt nun, dass einige seiner Texte von Bodenstedt übersetzt und in die Sammlung aufgenommen wurden, andere hingegen als Adaptionen oder Nachahmungen des Mirza Schaffy zu betrachten sind. Auf diese Weise inszeniert Bodenstedt den aus realen und angeeigneten Bestandteilen zusammengefügten Mythos von Mirza Schaffy, der die Orientmode des 19. Jahrhunderts bedient und für den ungeheuren Erfolg von Bodenstedts Liedersammlung steht.